RIAS Kammerchor

Seinen 75. Geburtstag feiert der RIAS Kammerchor am 15. Oktober 2023. Für einen Menschen wäre das ein stattliches Alter und oftmals auch der Zeitpunkt eines allmählichen Rückzugs aus der Öffentlichkeit. Für einen Chor dagegen ist das 75-jährige Bestehen der beste Beweis dafür, dass künstlerische Qualität und organisatorische Strukturen über mehrere Generationen und diverse Tücken der Zeitgeschichte hinweg bestens funktionieren. Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum!

RIAS: Der Name verpflichtet 

Der RIAS Kammerchor ist in den vergangenen 75 Jahren zu einer festen Berliner Qualitätsmarke geworden, in einer Reihe zu nennen mit Institutionen wie der Charité (seit 1710), der Kindl-Brauerei (seit 1872), den Berliner Philharmonikern (seit 1882), dem Schokoladenhaus Rausch (seit 1918) oder Serienmeister Alba (seit 1991). An den Namen hat man sich gewöhnt, er ist seit Gründung des Chores 1948 – bis auf die Eliminierung des Bindestrichs – unverändert geblieben. Dennoch oder gerade deswegen lohnt es sich, kurz über die beiden im Namen enthaltenen Wörter zu reflektieren: RIAS – Mit dem Slogan „Eine freie Stimme der freien Welt“ war der „Rundfunk im Amerikanischen Sektor“ von 1946 an während der gesamten Zeit der deutschen Teilung eine dominierende mediale Stimme, die von Millionen Hörerinnen und Hörern in West und Ost wahrgenommen wurde. Fünf Klangkörper – Symphonieorchester, Knabenchor, Kammerchor, Kammerorchester und Tanzorchester – standen zeitweise unter der Trägerschaft des RIAS, drei davon sind längst aufgelöst, das Symphonieorchester umbenannt. Einzig der RIAS Kammerchor hat das Vierbuchstaben- Kürzel im Namen behalten und weist damit bis heute auf eine wichtige Zäsur der Berliner Geschichte hin.

Kammerchor – Ein Kammerchor mit mehr als 30 Sänger*innen? Das erscheint heute, im Zeitalter vieler klein besetzter Vokalensembles, doch recht groß dimensioniert und wirft die Frage auf, wie groß die Kammer sein muss, in die alle Chormitglieder hineinpassen sollen. Aber der Begriff setzt hier die Maßstäbe der 1940er- und 50er-Jahre an, als ein herkömmlicher Rundfunkchor mindestens doppelt, gern auch dreimal so groß war. Warum auch immer die Verantwortlichen des RIAS damals den Chor nur mit vergleichsweise wenig Personal bedacht haben, so erwies sich dieser Entschluss als äußerst weitsichtig: Mit seiner Besetzungsstärke, verbunden mit seinem höchst transparenten Klangbild, wurde der Chor spätestens ab den 1980er-Jahren zu einem Spezialensemble der historischen Aufführungspraxis.

Uwe Gronostay im Studio

Kleine Galerie: Acht Herren am Pult 

Wenn es einen „Gründungsvater“ des RIAS Kammerchor gibt, dann ist es Karl Ristenpart. Er wurde im Februar 1946 mit dem Aufbau der RIAS-Klangkörper beauftragt und stellte in den schwierigen Nachkriegsjahren ein leistungsfähiges Vokalensemble zusammen. Zahlreiche Aufnahmen mit Werken von Monteverdi über Bach bis Mahler und Schönberg zeigen seine hohen künstlerischen und organisatorischen Fähigkeiten. Erster Chefdirigent nach der offiziellen Gründung des RIAS Kammerchor im Oktober 1948 wurde Herbert Froitzheim, der als strenger Chorerzieher die technischen Grundlagen für die Qualität des Chores legte. 1954 übernahm dann der umtriebige Berliner Chorpädagoge Günther Arndt und führte den Chor volle 18 Jahre lang durch alle denkbaren musikalischen Gefilde. Der RIAS Kammerchor war häufig an der Seite der Berliner Philharmoniker oder des Radio-Symphonie-Orchesters zu hören, machte aber auch gern Ausflüge in die leichte Muse. Um den seriösen Chornamen bei Aufnahmen wie „Weihnachten mit Rudolf Schock“ oder „Schwarzwaldmädel – Querschnitt“ nicht zu gefährden, nannte Arndt sein Sängerensemble hierbei kurzerhand und gänzlich unbescheiden „Günther-Arndt-Chor“.

RIAS Kammerchor 50er Jahre

Eine Zäsur in der Geschichte des Chores vollzog sich 1972 mit dem Amtsantritt von Uwe Gronostay. Produktionen mit Vico Torriani oder Brigitte Mira gehörten nun der Vergangenheit an, stattdessen stand für den neuen Chef die A-cappella-Kultur an erster Stelle. Geduldig über Jahre schulte Gronostay seine Sängerinnen und Sänger zu einem absolut homogenen Ensemble professioneller Solisten, wobei ihm der Schwedische Rundfunkchor unter Eric Ericson mit seiner klanglichen Perfektion als Vorbild diente.

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Unter Gronostays Leitung hat der RIAS Kammerchor seinen schlanken, transparenten Klang erhalten, der bis heute als Markenzeichen bewahrt wird. Auch organisatorisch tat sich einiges: Der später zum Ehrendirigenten ernannte Gronostay begründete 1983 die Tradition der Neujahrskonzerte, belebte in großem Maße die Reisetätigkeit des Chores und sorgte mit der Einrichtung des Studienfachs „Rundfunk-/Konzertchor“ an der Hochschule der Künste Berlin für eine direkte Verbindung zwischen Ausbildung und Chorpraxis. Marcus Creed verstand es ab 1986 als nächster Chefdirigent des RIAS Kammerchor, die von Gronostay erarbeiteten Klangideale auf neues Repertoire anzuwenden, wobei die Alte Musik im Gewand der historischen Aufführungspraxis eine führende Rolle einnahm. Zugleich mehrte sich die Zusammenarbeit des Chores mit externen Spezialisten wie René Jacobs oder Philippe Herreweghe. Creeds Nachfolger Daniel Reuss, der den Chor von 2003 bis 2006 führte, setzte sich in vielen Projekten für die geschärfte Polarität zwischen Alter und Neuer Musik ein.

Rias Kammerchor beim Adventssingen mit dem Bundespräsidenten 2003

2007 übernahm Hans-Christoph Rademann die Leitung des Chores. Mit seiner großen Expertise im Bereich der historischen Aufführungspraxis legte er programmatische Schwerpunkte auf das Werk der Bach-Familie, integrierte aber auch zahlreiche zeitgenössische Werke und Uraufführungen in die Konzerte. Unter den vielen Auszeichnungen des Chores ragt jene aus dem Jahr 2010 besonders hervor, als das britische Magazin „Gramophone“ den RIAS Kammerchor zu einem der zehn besten Berufschöre weltweit wählte. Seit 2017 steht Justin Doyle dem Chor als Chefdirigent vor.

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Er bereichert die Arbeit des Ensembles weiterhin mit einem breiten Repertoire, setzt Maßstäbe mit Händel-Aufführungen und vollzieht einen Zyklus mit abendfüllenden Auftragswerken. Nicht vergessen werden darf die „stumme“ Zeit der Coronapandemie, während der der Chor dank engagierter Führung keinen Deut seiner Strahlkraft verloren und sogar unter schwierigsten Bedingungen CDs eingespielt hat. Zu fragen wäre angesichts dieser Galerie von acht herausragenden Herren einzig und allein, wann die erste Chefdirigentin am Pult des Chores zu erwarten ist…

Wandel und Kontinuität: Wie definiert sich ein Rundfunkchor?

Der große Erfolg des RIAS Kammerchor gründet sich nicht nur auf die atemberaubende musikalische Qualität, sondern auch auf die Fähigkeit, seine Funktion in einer sich rasant verändernden medialen Welt regelmäßig neu zu bestimmen. Gegründet wurde das Ensemble als klassischer Rundfunkchor mit der klaren Aufgabe, das Radioprogramm mit Produktionen zu füllen. Entsprechend groß war die Zahl der Direkteinspielungen und Bandaufzeichnungen in den ersten Jahren. Am großen Boom der Schallplatte ab den 1960er-Jahren nahm der Chor auch teil, allerdings weniger mit Eigenproduktionen, sondern verstärkt als „Begleitensemble“ verschiedener Orchester. Durchaus als Vorteil erwies sich dabei, dass der Chor von Anfang an nicht zwingend mit dem hauseigenen RIAS-Symphonie-Orchester (dem späteren Radio-Symphonie-Orchester und heutigem DSO) verbunden war, sondern auch mit den Berliner Philharmonikern, dem Orchester der Deutschen Oper, den Berliner Symphonikern und anderen Ensembles musizierte. Völlig neu definierte sich der Chor dann Ende der 1980er-Jahre: Mit Einrichtung einer Abonnementreihe im frisch erbauten Kammermusiksaal der Philharmonie erhielt ab 1988 die Konzerttätigkeit in Berlin einen ganz neuen Stellenwert, wobei ausgewählte Programme gezielt mit CD-Einspielungen verknüpft wurden.

Die deutsche Einheit bescherte dem Chor ab 1992 in Gestalt der Akademie für Alte Musik Berlin einen idealen instrumentalen Partner für Barockmusik, was sich bis heute in zahlreichen Konzertprojekten und preisgekrönten Aufnahmen widerspiegelt. Hinzu kam in anderen Projekten die ebenfalls fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Freiburger Barockorchester, dem Chamber Orchestra of Europe, dem Orchestre des Champs-Élysées, der Capella de la Torre sowie weiteren Ensembles. Ausgedehnte Konzertreisen führen die Sängerinnen und Sänger aus Berlin auf alle wichtigen Podien weltweit, wobei die „Dezember-Tournee“, meist mit einem großen oratorischen Werk, bis heute einen besonderen Stellenwert einnimmt.

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Kann man diesen Tournee- und Konzertchor eigentlich überhaupt noch als Rundfunkchor bezeichnen? Aber selbstverständlich! Seit 1994 gehört der RIAS Kammerchor in die Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH Berlin, deren Gesellschafter neben Bund (35 %) und Land Berlin (20 %) das Deutschlandradio (40 %) und der RBB (5 %) sind. Ein Großteil der Berliner Konzerte des Chores wird im Rundfunk übertragen und häufig anschließend von nationalen und internationalen Rundfunkstationen übernommen; freilich ist der RIAS Kammerchor nun nicht mehr – wie vor 75 Jahren – der „Zuarbeiter“, sondern der Partner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

ECHO Klassik 2014 in der Philharmonie im Gasteig in München am 26.10.2014

Keine Angst vor Dissonanzen: 

Der Reiz der Moderne Rundfunkchöre sind per se für die Pflege der zeitgenössischen Musik prädestiniert, zum einen organisatorisch, da die Radioanstalten im Rahmen ihres öffentlichen Auftrags ein besonderes Augenmerk auf die Moderne richten, zum anderen auch rein praktisch, da oftmals nur solch professionelle Ensembles die technischen Klippen Neuer Musik bewältigen. Der RIAS Kammerchor verstand sich von seiner Gründung an als wichtiger Vermittler zeitgenössischer Werke, durchaus auch in Verbindung mit seinem (zumindest während der ersten 40 Jahre) politisch sensiblen Wirkungsort: Hier, in Berlin, hatte zuvor das menschenverachtende Naziregime jegliche Ansätze musikalischer Avantgarde brutal eliminiert, gleichzeitig richtete sich hinter der Sektorengrenze mit der DDR ein System ein, das die Moderne skeptisch betrachtete und mit strenger Zensur belegte. Die vielen Ur- und deutschen Erstaufführungen, die der RIAS Kammerchor allein bis 1989 von West-Berlin aus gesungen hat – Werke von Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Bernd Alois Zimmermann, Hans Werner Henze, Krzysztof Penderecki, Arvo Pärt und vielen anderen mehr – waren damit tatsächlich das Zeichen einer freien (und zugleich wunderbar intonationsreinen) Stimme der freien Welt.

György Ligeti beim RIAS Kammerchor

Begünstigt wird die intensive Beschäftigung des Chores mit Neuer Musik durch die kompakte Besetzungsgröße und das maßgeblich von Uwe Gronostay erarbeitete transparente Klangbild. Ur- und Erstaufführungen avancierter Chorkompositionen werden auch in Zukunft beim RIAS Kammerchor bestens aufgehoben sein. 

Neue Wege: Mit Tablet ins Kraftwerk 

Die stetige Wandlung des RIAS Kammerchor bei kontinuierlicher musikalischer Spitzenqualität zeigt sich auch in seinen Berliner Auftrittsorten und Konzertformaten.

RIAS Kammerchor neue Konzertformate

Verbrachte der Chor in seinen frühen Jahren viel Zeit in Rundfunkstudios und Sendesälen, trat er ab den 1960er-Jahren immer häufiger in öffentlichen Konzertsälen auf, ab 1987 bevorzugt im Kammermusiksaal der Philharmonie. Parallel wuchs in den vergangenen drei Jahrzehnten immer stärker der Wunsch, auch an anderen Orten in Berlin sängerisch in Erscheinung zu treten. Verschiedene Kirchen und kleinere Konzertsäle wurden zu Auftrittsorten, dann aber auch zunehmend ungewöhnliche Orte, an denen das gewählte Programm mit der Räumlichkeit in eine besondere Beziehung tritt. In der Reihe ForumKonzerte lädt der RIAS Kammerchor in Museen und Hörsäle, in Clubs und Industriedenkmäler wie das Kraftwerk Berlin-Mitte. Mit solchen Formaten wie auch mit Schulchorpatenschaften und der Förderung junger Sänger*innen als Akademist*innen präsentiert sich der RIAS Kammerchor – trotz seiner 75 Jahre – als jung und zeitgemäß. Und schließlich: Rechtzeitig zur Jubiläumssaison singt der RIAS Kammerchor nicht mehr aus Papier-Noten, sondern ganz nachhaltig vom Tablet. Mögen die Akkus dieser Geräte ebenso wie die Förderstrukturen in Berlin und das einzigartige Klangbild dieses Chores auch in den nächsten 75 Jahren nie versiegen.

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